Miss Saigon: Zwischen Liebe, Krieg, Hoffnung und Tod

Bild: Michelle Brügger

Über 36 Millionen Zuschauer in 369 Städten haben eines der erfolgreichsten Musicals bereits gesehen. Jetzt wird «Miss Saigon» in der Schweiz zum ersten Mal in englischer Originalversion aufgeführt.

Den Machern des Musicals Miss Saigon ist es sehr wichtig, dem Publikum auf der Tour dasselbe Erlebnis zu bieten wie bei den Shows im Prince Edward Theatre in London. Mit 16 Sattelschleppern wurde das Material von England nach Zürich transportiert. Für den Abbau werden rund 22 Stunden benötigt und etwa drei Tage, um die Show am nächsten Ort wieder aufzubauen. Für diesen Transfer und den anschliessenden Aufbau von Miss Saigon im Theater 11 waren über 100 Personen involviert – und das rund um die Uhr.

Ein paar Fakten und Zahlen

Seit der Uraufführung in London im Jahr 1989 erhielt das Musical über 70 Auszeichnungen, unter anderem zwei Olivier Awards, drei Tony Awards und vier Drama Desk Awards.

Das Ensemble setzt sich aus 38 Darstellern aus zehn Nationen zusammen, musikalisch begleitet von einem fünfzehnköpfigen Orchester samt Dirigenten. Das Backstage-Team sorgt dafür, dass die Show reibungslos über die Bühne gehen kann. Dazu zählen Company-Manager, Assistenz, Bühnenmanager, Retail Manager, Bühnentechniker, Flymen, Scheinwerfertechniker, Theaterschreiner, Techniker für die Bühnenautomation, Tontechniker, Theater-Elektriker, Ankleider, Perückenmacher und Garderobiere. Zusätzlich sind zwei Aufsichtspersonen für die jungen Darsteller und zwei Physiotherapeuten im Einsatz. Mit auf Tournee ist der Resident Director, der die künstlerische Qualität der Show gewährleistet.

Beleuchtet wird die Kulisse von einer 12 x 9 Meter grossen LED-Wand, die aus 5184 individuellen LED-Lichtern besteht. Die Helikopter-Rotorblätter drehen sich in einer Woche mit acht Shows rund 3600-mal. Der Helikopter, der bis zur Ende der Tour 20 km zurücklegt, wiegt über drei Tonnen und ist sechs Meter hoch.

Kulisse von Miss Saigon
Bild: Michelle Brügger

Auf Tour sind vier Waschmaschinen und Tumbler, zwei Bügelbretter und vier Dampfbügeleisen sowie drei Trockenschränke im Einsatz. Pro Woche werden damit 104 Ladungen Wäsche gewaschen. In jedem Kostüm ist ein Etikett mit dem Namen des Schauspielers, der Szene und seiner Figur im Musical eingenäht. Frauen sind bekannt dafür, ihre Garderobe zu verschiedenen Anlässen zu wechseln. In dieser Aufführung ziehen sich die Mitglieder des weiblichen Ensembles insgesamt 16-mal um. In der Szene «American Dream» tragen die jungen Frauen knappe Bikinis. Jeder einzelne davon ist mit einem Kilo Glasperlen besetzt!

Die Strohhüte aus der Show werden noch heute in Vietnam oder Thailand hergestellt. Die Schutzwesten und Helme der GI’s sind original und wurden im Vietnamkrieg eingesetzt. Ashley Gilmours Schutzweste hat mehrere echte Einschusslöcher. Im Musical werden 200 Paar Schuhe und 60 Echthaarperücken eingesetzt: Für Sooha Kims Perücken werden ihre eigenen Haare verwendet. Kims Figur wechselt während der Show sieben Mal ihre Frisur.

Ensemble "Miss Saigon"
Bild: Michelle Brügger

Szenen für die Medien

Am Nachmittag vor der Premiere kamen wir in den Genuss, zwei Szenen des ersten Akts beizuwohnen. «The Last Night of the World», in der nur Kim und Chris vorkommen sowie «The Morning of the Dragon» mit Thuy, The Engineer und der Company. Jede Szene wurde zweimal für die anwesenden Medienvertreter aufgeführt: einmal extra für uns Fotografen, damit wir uns frei vor der Bühne bewegen konnten. Der zweite Durchgang wurde für Videoaufnahmen performt.

The Last Night of the World

Chris erzählt Kim von seinem Entschluss, sie nach Amerika mitzunehmen. Im Song The Last Night of the World erinnern sie sich an ihr erstes Treffen, bei dem im Hintergrund ein Saxophon spielte. Sie sind überzeugt, die Liebe werde siegen und sie versprechen sich, dass ab Morgen alles anders sein wird.

Die beiden Darsteller Sooha Kim (als Kim) und Ashley Gilmore (als Chris) könnten diese Szene auch in einer Sprache performen, die mir unbekannt ist. Sie transportieren solch Feuerwerk an ausdrucksstarken Emotionen, die keiner Sprache bedürfen. Man würde auch so verstehen, wie sehr sie sich lieben und sich euphorisch über etwas unterhalten. Sie tanzen, lachen und schmieden zuversichtlich Pläne für die Zukunft. Ich fühle mich, als wäre ich zufällig am selben Ort und würde die Szene per Zufall miterleben. Ich glaube den beiden jede Silbe und frage mich insgeheim, ob die beiden nicht auch im realen Leben ein Liebespaar sein könnten.

Sooha Kim und Ashley Gilmore
Bild: Michelle Brügger

The Morning of the Dragon

Der Song The Morning of the Dragon wurde von der Company gesungen. Es erfolgt ein Zeitsprung von drei Jahren, nachdem die Nordvietnamesen in Saigon eingefallen sind. Der Engineer durchlebte eine vermeintlich erfolgreiche Umerziehung und musste Zwangsarbeit auf Reisfeldern leisten. Thuy dient inzwischen als Volkskommissar und verlangt vom Engineer, Kim innerhalb von zwei Tagen zu finden. Er verspricht ihm bei Erfolg, freizukommen.

Diese Szene ist voller eindrucksstarker Darbietungen des Ensembles. Man weiss gar nicht, wo man hinsehen soll und hofft, nichts zu verpassen. Leo Tavarro Valdez (als The Engineer) setzt seine Mimik gekonnt ein, um das Schlitzohr, das er ist, rüberzubringen. Seine Verzweiflung, die Gerald Santos (als Thuy) mit seiner Forderung in ihm auslöst, erzeugt bei mir Gänsehaut.

Leo Tavarro Valdez
Bild: Michelle Brügger

Mein persönlicher Premieren-Abend

Mit all den persönlichen Informationen, die ich in den Interviews erhielt, betrachtete ich das Musical mit ganz anderen Augen.

Je mehr man über eine Geschichte weiss, umso intensiver erlebt man sie. Bekommt man dann auch noch ein paar Hintergrundinformationen zu den Akteuren, baut man eine Art Bindung zu ihnen auf. So als würde man sie kennen. Und wem geht es nicht so, dass man noch einen Tick aufmerksamer zuhört/zuschaut, wenn ein Bekannter auf der Bühne agiert oder hinter den Kulissen mitwirkt?

Die Premiere in Zürich war auch meine ganz persönliche Premiere von Miss Saigon. Ich wusste nur, dass es in der Zeit des Vietnamkriegs spielt, kannte aber die Handlung nicht. Diese Wissenslücke habe ich im Voraus bewusst nicht geschlossen, um das Stück mit jedem meiner Sinne zu erfahren und mir die Überraschung nicht zu verderben, wenn ich den Inhalt oder den Ausgang der Geschichte bereits kenne. Wer mir dies gleichtun möchte, sollte die nächsten Absätze überspringen.

Zwei Akte voller Emotionen

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Gerald Santos
Bild: Michelle Brügger

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Das Musical setzt sich aus zwei Akten zusammen, die sich an vier verschiedenen Orten zwischen 1975 und 1978 abspielen. Anders als viele Musicals, hat Miss Saigon kein Happy End. Emotional ist es schwere Kost, sobald einem bewusst wird, wie die Vergangenheit in diesem Bühnenstück verarbeitet wurde; im Wissen, dass sehr viele Veteranen die Show besuchten und sich in Teilen der Story wiederfanden.

Diese Gedanken bewegen mich zusätzlich zutiefst bei sehr vielen Szenen. Immer wieder bin ich fasziniert von der schauspielerischen Leistung, mit ich während über zwei Stunden auf eine Achterbahn der Gefühle geschickt werde. Liebe, Krieg, Verzweiflung, Hoffnung, Ausweglosigkeit und Tod. Die Darbietung ist so mitreissend, dass ich emotional zu 100 Prozent dabei bin und am Ende beinahe in Tränen ausbreche.

Manchmal fällt mir auch etwas auf, das mir die Darsteller oder der Komponist in ihren Interviews verraten hatten. Dann springe ich für ein paar Sekunden aus der Rolle des mitgerissenen Zuhörers und werde zum Beobachter. Grinsend registriere ich zum Beispiel, wie das Ensemble die Bühnenbilder in Position bringt und mir das definitiv nicht aufgefallen wäre. Ich ertappe mich dabei, wie ich überlege, ob ich grade das höre, was der Komponist bei früheren Aufführungen vermisste.

Ensemble "Miss Saigon"

Standing Ovations

Auch wenn das die Dame links von mir anders sah, die Standing Ovation am Ende der Vorstellung ist mehr als gerechtfertigt. Ihr einziges Problem bestand nur darin, dass man ihr damit die Sicht auf die Bühne nahm und sie ebenfalls aufstehen musste. In dem Moment kamen mir die Worte von Claude-Michel Schönberg aus unserem Interview in den Sinn:

«Um ehrlich zu sein: Wir wissen, die Show ist gut. Wenn die Leute das heute Abend anders sehen und sie nicht mögen, tun sie mir leid.»

Nach der heutigen Darbietung ist für mich sonnenklar, wie ein Musical über zehn Jahre am Broadway aufgeführt werden kann und weshalb es seit 2014 konstant auf Tour ist. Abgesehen davon, dass die Handlung eine Reise in die Vergangenheit ist, ist die Thematik aktueller denn je. In der Trostlosigkeit des Krieges ist die Liebe die wunderbarste Hoffnung auf bessere Zeiten.

Ich kann Miss Saigon nur jedem wärmstens empfehlen und werde es sicherlich in Zukunft ein weiteres Mal geniessen. Im Theater 11 in Zürich wird die Show noch bis zum 13. Januar 2019 aufgeführt.

Sooha Kim und Ashley Gilmore
Bild: Michelle Brügger