Kurzurlaub für die Seele und das Ohr

Ein Abend am ROAM Festival in Lugano

Das ROAM Festival fand dieses Jahr zum dritten Mal statt. Wir haben den Rohdiamanten in Lugano begutachtet.

Irgendwann nach drei Uhr nachmittags öffnet sich der San Bernardino; und mit ihm der Himmel. Fette Tropfen knallen auf die Frontscheibe, ploppen wie Popcorn in der Mikrowelle. Benvenuti in Ticino. Unten im Tal hört der Regen auf. Es ist heiss, geradezu drückend. Hier trägt man Schweissperlen um den Hals, aber so wenig Stoff wie möglich. Lugano flimmert. Kurzer Check-In im Hotel Pestalozzi, gleich neben dem Parco Ciani, wo das ROAM Festival stattfindet. Es ist der Grund, weshalb ich die 307 Kilometer runtergespult habe.

Touristen schiessen im Parco Ciani, Lugano, Erinnerungsfotos
Der Parco Ciani bietet Touristen genug Möglichkeiten für Erinnerungsfotos. Bild: Janosch Tröhler

Es war im März am m4music, als ich die Bekanntschaft mit Daniele machte, einem Marketing-Mann der Stadt Lugano. Ja, es ist die Stadt, die das ROAM Festival veranstaltet. Eine PR-Massnahme, um mehr Touristen aus der Deutschschweiz anzulocken. Doch obwohl das Festival bereits zum dritten Mal veranstaltet wird, ist dieses Ding auf der Gotthard-Nordseite ein Mysterium.

Andererseits ist es nicht nur das ROAM Festival, sondern das Tessin allgemein. Auf der Schweizer Musiklandkarte ist die Sonnenstube ein schwarzes Loch. Nur ab und zu bricht etwas aus diesem unbekannten Territorium aus: Peter Kernel oder Camilla Sparksss, die Projekte von Barbara Lehnhoff. Oder Rocky Wood, die aktuell an neuem Material arbeiten. Denkt man ans Tessin, denkt man aber doch eher an Palmen, wilde Flüsse und die Promenade in Ascona.

Die Stadt Lugano will dies ändern – unter anderem mit dem Festival, das ein ansehnliches Line-up auffährt: White Lies, Japanese House, Apparat. So sollen Musikfans aus dem Norden angelockt werden. Eine Herkulesaufgabe, bringt man doch schon einen Zürcher kaum dazu, ein Konzert in Winterthur zu besuchen.

Sei’s drum. Der Parco Ciani ist eine lauschige Anlage direkt am Ufer des Luganersees. Beim Blick auf das Wasser verteufle ich mich, die Badehose zuhause gelassen zu haben. Doch von den Bergen her rücken dunkle Wolken an – und ich verteufle mich nochmals, keine Regenjacke dabei zu haben. Um Glück sollte der Abend vom Regen verschont bleiben.

Kunst im Wasser beim Parco Ciani, wo das ROAM Festival stattfindet
Kunst ist allgegenwärtig im Parco Ciani – und der Blick auf den Sighignola. Bild: Janosch Tröhler

Manchmal weht eine kühlende Brise zwischen den mächtigen Bäumen durch. Das Gelände des Festivals selbst ist mit schwarz gewandeten Zäunen abgesteckt. Gross ist es nicht und mutet nach einem Dorffest an. Noch laufen die Vorbereitungen für diesen Freitagabend, Songfetzen des Soundchecks verhallen über den Wiesen. Ein paar Alkis zischen Dosenbier, hören Punk und drehen Zigaretten.

Etwas nach 18 Uhr öffnet das Gelände ganz ohne Ansturm. Die Fläche ist etwa so gross wie ein mittlerer Konzertsaal in Zürich. Tatsächlich finden dann etwa 1000 Menschen am Abend den Weg ans ROAM. Nun, Grösse ist nicht alles. Das überschaubare Gelände hat seinen Charme, bedacht durch beleuchtete Baumkronen. Potential nach oben ist vorhanden. Das Feeling des Outdoor-Clubs ist noch nicht konsequent genug umgesetzt. An der Deko-Front könnte noch viel gemacht werden. Es fehlen die Sitzgelegenheiten. Rund um das Gelände liegen zwar alle auf dem Rasen, aber drin ist’s bloss ein staubiger Kiesplatz. Dazu dürften ruhig ein, zwei Toiletten mehr aufgestellt werden. Alles Dinge, die ich Daniele nach den Konzerten noch sagen werde.

Schriftzug des ROAM Festivals an einem Baum
Das ROAM Festival hat noch Potential nach oben. Bild: Janosch Tröhler

Was um 19:20 Uhr, zehn Minuten vor dem ersten Konzert, ebenfalls fehlt: Das Publikum. Peaches dröhnt mit Fuck The Pain Away über den gähnend leeren Platz. Immerhin höre ich von der Handvoll schon Anwesenden Schweizerdeutsch. Somit scheint das Festival seinem Ziel zumindest etwas näher gekommen zu sein.

Leerer Platz vor der Bühne am ROAM Festival
Lange blieb der Platz vor der Bühne leer. Bild: Janosch Tröhler

Dann lässt das Festival via Instagram verlauten, dass der Start um 45 Minuten verschoben werde. Tatsächlich hängen die meisten Besucher*innen noch bei den Food-Ständen rum.

Under Changeover, ein Tessiner Electro-Künstler, läutet den Abend dann musikalisch ein. Ohne zu wissen, was mich erwartet, blieb der Mann doch nicht greifbar. Die langen Passagen ohne Bass sind zwar herrlich sphärisch, doch ist das wirklich der Knall, den es für eine lange Nacht braucht? Wenn die Bässe dann einsetzen, in den Lungen vibrieren, kommt schon eher Stimmung auf. Nach bloss dreissig Minuten ist das Set auch wieder Geschichte. Und ich weiss nicht, ob ich froh oder enttäuscht darüber sein soll. Under Changeover hinterlässt unbefriedigende Ambivalenz.

«Are you the manager?», fragt mich plötzlich ein Besucher. Ich verneine. Aber ich bin nun mal der einzige, der mit einem Shirt von Lea Porcelain, der nächsten Band auf dem Programm, rumsteht. Eigentlich gehe ich nie mit entsprechendem Merch an ein Konzert, jetzt weiss ich wieder, weshalb.

Lea Porcelain starten ihr Set mit Warsaw Street, arbeiten sich dann weiter durch die Highlights des Debütalbums Hymns To The Night und präsentieren sogar For The Light, ein noch unveröffentlichter Track der kommenden EP Love Is Not An Empire. Leider geht die Stimme von Markus Nikolaus zu oft in der massiven Soundwand der Band unter.

Lea Porcelain auf der Bühne am ROAM Festival
Lea Porcelain lieferten einen starken Auftritt ab. Bild: Janosch Tröhler

Doch sie spielen unbeschwert. Auf der Bühne verwandeln sich die schon starken Aufnahmen in eskalierende Versionen, ausgebaut auf epische Länge und von hypnotischer Qualität. Der Höhepunkt ist vielleicht 12th of September, dem verstorbenen Vater von Nikolaus gewidmet. Der kahlköpfige Sänger steigt über die Absperrung ins Publikum herab, in den Händen – wie immer bei diesem Stück – einige Räucherstäbchen. Es ist ein fantastisches Intro, rhythmisiert durch archaisches Trommeln. Es ist ein Ritual.

Lea Porcelain enden mit der Hoffnung. Auch I Am OK wird ausgeschmückt. Julien Bracht, der zweite Mann im Herzen der Band, lässt den Synthesizer schnurren. Sie ziehen einen fulminanten Schlussstrich unter das Set.

An der Bar treffe ich den Besucher wieder, der mich zuvor angesprochen hat. Er war nicht zufrieden mit dem Auftritt, aber wegen des Publikums. «They didn’t understand the music», meint er. Die Menschen seien nicht abgegangen. Ich widerspreche: Das Schöne an Lea Porcelains Musik sei eben, dass sie auf zwei Arten genossen werden kann. Entweder kann man sich gehen lassen oder darin versinken. Einig werden wir uns nicht, aber stossen trotzdem an.

Der Hauptact des Abends hatte eine Tortur hinter sich. Sascha Ring, seines Zeichen auch Musiker bei Moderat, flog unter dem Banner seines Electronica-Projekts Apparat nach Mailand. Es kam, wie es so oft kommt: Vier Kisten voller Equipment seiner Band gingen verloren. So verbrachten sie den Nachmittag nicht mit Sonnenbaden, sondern tingelten durch ganz Lugano, um das Nötigste aufzutreiben. Sie spielten gar mit dem Gedanken, die Sache ganz abzublasen.

Erstaunlicherweise kriegten sie das Equipment noch zusammen. Dass Ring und seine Truppe dann einen solchen Auftritt abliefern, ist alles andere als selbstverständlich. Da stampfen sie gigantische Klangkathedralen in den nächtlichen Park. Der Sound wummert mit einer urtümlichen Qualität; erdverbunden und doch abgehoben in andere Dimensionen. Es sind ohrenbetäubende und weite Landschaften, die sie zaubern. Mal sanfte, mal brachiale, aber stets elektrisierende Eskapaden. «That was a nice ending», sagt eine Besucherin zu ihrer Begleitung.

Apparat auf der Bühne am ROAM Festival 2019
Trotz Schwierigkeiten boten Apparat ein Spektakel. Bild: Janosch Tröhler

Das ROAM Festival hält, was es verspricht. Es ist ein kleiner Rohdiamant, der hier und da noch etwas Schliff braucht. Im hart umkämpften Festivalmarkt der Schweiz hat das ROAM die richtigen Zutaten: Ein starkes Programm – und vor allem eine einzigartige Location. Heute reicht es nicht, eine Bühne zu stellen und Bands auftreten zu lassen. Das Drumherum muss stimmen. Das ROAM ist deshalb auch kein klassisches Openair, es gibt keine offiziellen Übernachtungsmöglichkeiten. Vielmehr lässt sich ein Abend im Parco Ciani kombinieren mit einem verlängerten Wochenende im Tessin. Ein Kurzurlaub für die Seele – und das Ohr.

Besucher am ROAM Festival
Ein Besuch am ROAM Festival lohnt sich. Bild: Janosch Tröhler