Die Leiden des Michael F.

Der Autor Michael Fehr. Bild: zvg

Schriftsteller Michael Fehr las in der Kulturvorlesung des Journalismus-Studiengangs aus seinem Werk «Simeliberg». Anschliessend stand er den Studierenden Red und Antwort und liess es sich nicht nehmen, eine Stellungnahme zu den Wahlen zu geben.

von Jonas Gabrieli, Anna Kunz und Mark Walther

Langsam und behutsam legt er sich die schwarzen Kopfhörer über, steckt dessen Stecker in sein Smartphone und legt los: «Grau, nass, trüb, ein Schweizer Wetter. Ziemlich ab vom Schuss.» Etwas holprig zu Beginn, doch bald sprudeln die Worte in einem, mal wilden, mal sanften Strom aus ihm hervor. Mit seiner tiefen, rauchigen und festen Stimme inszeniert Michael Fehr sein aktuelles Werk Simeliberg gekonnt und zeichnet den Zuhörerinnen und Zuhörern ein bedrohliches Bild vor Augen.

Fehr ist für eine Lesung im Rahmen der Kulturvorlesung des Journalismus-Studiengangs an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften nach Winterthur gekommen. Während Fehr die Geschichte um den Gemeindeschreiber Griese und den des alten Landammann Schwarz vorträgt, stellt man sich unweigerlich die Frage, welche Rolle Fehr sich als Pendent zu seiner eigenen Person gedacht hat. Denn er spricht diesen Figuren aus der Seele und lässt sie ihre düstere Gestalt annehmen.

Er verkörpere sie alle, verrät uns Fehr in der anschliessenden Fragerunde. Er ist der griesgrämige Griese, der etwas verwirrte alte Bauer, die möglicherweise hilfsbereite Polizistin. Noch immer ist es mucksmäuschen still im Raum. Nur das Klimpern der Tastaturen begleitet die Ausführungen des Berner Schriftstellers, niederprasselndem Regen gleich. Töne und Klänge – sie begleiten Fehr auch bei seiner Arbeit: «Beim Schreiben habe ich eine Melodie im Kopf.» Sie sei für jedes Werk anders: «Wichtig ist einfach, dass der Text am Schluss nach sich selbst klingt.» Der 33-Jährige will denn auch keinen grossen Unterschied machen zwischen Schrift und Musik: «Schreiben ist für mich ein zutiefst musikalischer Vorgang.» So sieht er seine Niederschrift von Simeliberg als Partitur. Diese zu interpretieren stehe jedem zu. Doch habe er bis anhin noch keine Person getroffen, die für ihn als Wunschkandidaten dafür in Frage komme. Wie der Gesang entstehen auch Fehrs Texte über die aktive Sprache. So spricht Fehr seine Texte auf den Computer, schneidet, korrigiert und erst dann, wenn alles perfekt, symmetrisch erscheint – eben nach sich selbst klingt – ist das Werk vollbracht.

Doch Fehr ist nicht nur musikalisch, sondern auch bildgewaltig. Zuweilen auch finster. Obwohl er selbst sehr viel Heiterkeit in seinen Texten wiederfinde. Die Frage, was seine Leser aus seinen Büchern mitnehmen sollen, lässt ihn lange nachdenken. Es sind jene Momente, die den Schriftsteller älter und erfahrener erscheinen lassen. Fehr rutscht auf dem Stuhl hin und her, schaut zum Fenster und beginnt: «Fantasie?» – Man merkt, in seinem Kopf werden Wörter zurechtgerückt, Begriffe gesucht, wieder verworfen. Das, was gesagt werden soll, muss so stehen bleiben: «Wenn sich im Kopf der Leute Bilder manifestieren, habe ich mein Ziel erreicht.»
Die Sprechart erinnert an Peter Bichsel. Bemüht, die richtigen und passenden Worte zu wählen, um auch exakt das ausdrücken zu können, was gesagt werden möchte. So könne mit Literatur das Ungleichgewicht, das Inkorrekte in dieser Welt «zurechtgerückt» und «symmetrisch» dargestellt werden. So ist Simeliberg wohl eher als Gesellschaftsskizze gedacht, denn als Gesellschaftskritik. Es gehe um Schuld, meint Fehr. Dabei spricht er weiterhin bedacht langsam, seine Worte bewusst wählend. Und dann sprudelt es wieder aus ihm hervor: Er beginnt über die Wahl von Martulla-Blocher zu sprechen, darüber, was «falsch läuft»; über eine stattfindende Völkerwanderung.
Irgendwie ist es glasklar, was Fehr sagen möchte, und doch bleibt die Frage: Meint er das, was ich denke, dass er meint, nun wirklich so? So schmunzeln wir auch bei seiner Begründung, warum er Schriftsteller geworden sei: «Man muss sich festlegen für einen Beruf. Man kann nicht einfach irgendwas machen. Also habe ich gesagt ich werde Schriftsteller und schreibe Bücher.» So banal diese Antwort klingt, ist sie doch wohl überlegt von Fehr und stellt einmal mehr das Spannungsfeld der Gesellschaft und seiner selbst ins Zentrum. Ist es Fehr, der sich dieser starren Einteilung auferlegt, oder wird diese durch die Gesellschaft verlangt? Solche Fragen bleiben im Kopf und hinterlassen einen Eindruck von Fehr als erfahrener Denker. Obschon er mit seinen 32 Jahren näher bei den Studenten als seinem Literaturkollegen Peter Bichsel steht.

Michael Fehr lebt zurzeit gut von seinem Buch und weiteren Projekten am Theater. Zurzeit schreibt er nichts. Geht es ihm, der einst sagte, dass «gute Geschichten aus dem Leiden heraus entstünden», zu gut? Wieder denkt Fehr lange nach. Beinahe denkt man, dass er die Frage nicht gehört hat. Nach einer Weile gibt er Antwort: «Es ist eine gute, aber gefährliche Frage.» Aber dann gibt er entwaffnend zu, dass es ihm wahrscheinlich schon zu gut gehe. Zumindest sei er zu abgelenkt, denn er habe so viele Möglichkeiten. Fehr glaubt weiterhin, dass ein Künstler leiden muss, um etwas mit Intensität zu produzieren. «Bisher wussten alle Künstler, die ich getroffen habe und etwas Bewegendes produziert hatten, was harte Zeiten sind.» Am Ende relativiert er aber mit dem Beispiel des österreichischen Komponisten Franz Schubert: «Er soll sehr gesellig gewesen sein und was der zusammenkomponiert hat, ist Wahnsinn.»

Nichtsdestotrotz hat Fehr bereits seit zwei Jahren nichts mehr geschrieben, «ausser so öde Sachen wie E-Mails». Man sieht ihm den Schalk an, er ist sich seiner Worte sehr wohl bewusst. Die am Klagenfurter Wettlesen prämierte Geschichte Simeliberg war sein bisher erstes und auch letztes Werk. Für ein neues Werk fehlen ihm nicht die Melodien, es fehlen ihm die Geschichten. Fehr rennt den Ideen für seine Texte nicht hinterher – die Ideen kommen zu ihm: «Ich weiss plötzlich eine Geschichte, und wenn sie stark genug ist, dann schreibe ich sie auf.» Momentan steckt Fehr seine Energie vermehrt in die Musik. Blues hat es ihm angetan. Dennoch: er vermisst das Schreiben. Da kommt es ihm wohl gerade recht, dass ihn erst kürzlich eine neue Idee angesprungen hat. Wie diese Idee klingt, wollte er an diesem Montag nicht verraten. Wie die Geschichte von Fehr wohl klingen wird?