Momentan finden in Zürich die 38. Schweiter Jugendfilmtage statt. Der Fokus: die Türkei. Der erste Eindruck: eine Achterbahnfahrt. Ein Bericht vom Eröffnungsabend.
Die Nase läuft. Bestimmt schreitet sie die Gänge des Einkaufszentrums entlang. Vor dem Regal mit den Sägen bleibt sie stehen und greift sich eine. Welche? Das weiss sie schon lange, sie muss nicht überlegen. Ihr schleichen zwei Männer nach: der eine hat keinen Arm, der andere glaubt, seine Nase verloren zu haben. Sein Sohn hat sie gestohlen, als sie sich im mit farbigen Plastikbällen gefüllten Planschbecken vor dem Einkaufszentrum balgten.
Dieser Ausschnitt aus Le Nez von Elie Aufseesser ist noch längst nicht das Skurrilste, was man an der Eröffnung der 38. Schweizer Jugendfilmtage zu sehen bekommt. Alles beginnt mit dem 15-minütigen Film Frischfleisch – Kinder im Angebot einer Sekundarschule aus Horgen. Mit viel Charme und dem offensichtlichen Ziel, Erwachsene so lächerlich wie möglich zu machen, erzählt der Film von einer Dystopie, in der Kinder auf der Internetseite „Childbay“ ersteigert oder beim Biobauern, der grüne Kinderzucht betreibt, bestellt werden können. Geimpft, gechipt und mit persönlichem Strichcode im Nacken. Wer die Mittel dazu nicht aufbringen will, wendet sich an einen Dealer, der die Kinder im Keller aufbewahrt. Die Kinder, die es nicht in eine Familie schaffen, weil sie einfach in keine reinpassen, werden im Kinderheim „Sunneblick“ – vom Heimleiter liebevoll „Sunnebunker“ genannt: „Will, wüssed Sie, Feischter hämmer da kei.“ – untergebracht, wo es als Highlight gilt, wenn der Strohvorrat aufgestockt wird.
Bob die Killerkatze dauert nicht einmal eine Minute. In dieser Zeit schafft es das gutgemeinte Weihnachtsgeschenk allerdings, seine neue Familie nach allen Regeln der Kunst zu ermorden: Schädel werden in Teile zerfetzt, der Vater verkohlt elendiglich in der Badewanne. Und Bob zeigt sein böses Lächeln. Nicht ganz so eigenartig, dafür umso bedenklicher ist der Blick auf die Familie in Le Doigt d’Honneur. Drei Geschwister beschliessen, dass der Ring am Finger des toten Vaters, der 38’000 Franken wert sein soll, ihnen rechtmässig zusteht; für die fehlende Unterstützung und all die Schläge auf die Finger mit dem Lineal, unter denen sie immer so litten. Der Einzige, dem klar ist, dass hier etwas falsch läuft, ist der treue Schäferhund, aber auf den hört natürlich keiner. Wenigstens frisst er am Ende den abgetrennten Finger; mitsamt Ring. Eine bitterböse Ode an die Gier des Menschen.
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Den Tiefpunkt dieser emotionalen Talfahrt erreichen wir mit dem letzten Film Houses with small Windows. Mit beeindruckenden Bildern einer kargen, staubig-trockenen Landschaft irgendwo im türkischen Hinterland schafft der türkische Nachwuchsregisseur Bülent Öztürk den Kontrast zu den humorvolleren Streifen der Schweizer. Eine namenlose Frau mit wunderschönem Gesicht und melancholischen Augen, die ihren Mann betrogen hat, wird von den eigenen Brüdern an einem abgelegenen Ort erschossen. Die Zuschauer zucken zusammen. „Das Blut klebt an unseren Händen“, hört man einen alten Mann sagen. Die Fehde wird weitere Opfer fordern. Kurz darauf sieht man ein kleines Mädchen. Mit strengem Gesicht pflückt sie Sträucher und reisst die Blüten ab. Ein Teufelskreis oder der Anfang des Ausbruchs aus ihm? Öztürk packt Blutmord und Zwangsheirat in eine beklemmende Viertelstunde und macht ganz andere Probleme deutlich, die die Schweiz so nicht kennt.
[su_box title=“Die Jugendfilmtage gehen weiter“ style=“soft“ box_color=“#999″]Die Jugendfilmtage finden noch bis zur Preisverleihung am 6. April in der Zürcher Gessnerallee statt. Alle Infos findet ihr unter jugendfilmtage.ch[/su_box]