Gäbe es die Streaming-Community nicht, wäre die schwedische Singer-Songwriterin Anna Ternheim vermutlich glücklicher. Denn sie denkt in Alben statt in einzelnen Songs, wie sie im Interview im Vorfeld ihres Konzerts in Zürich erklärt.
Dein neues Album A Space for lost Time klingt sehr einheitlich und doch hat jeder Song einen eigenen Charakter. Hast du dafür ein Rezept?
Anna Ternheim: Ein Album zu kreieren ist nicht so einfach. Ein Rezept gibts sowieso nicht. Ich habe es schon immer geliebt, Songs zu einem grossen Ganzen zusammenzufügen. Um das zu schaffen, musst du die Identitäten der einzelnen Songs entwickeln, ihre Rhythmik und kompositorische Besonderheit. Und damit musst du übers Album hinweg Spannung aufbauen. Das ist ein bisschen wie bei einem Konzert: Was passt zusammen, was nicht? Das muss man ausprobieren und dann gut hinhören, wie es als Ganzes funktioniert.
Im Vergleich zu einem Konzert gibts aber Unterschiede. Beim Konzert musst du auf ein bestehendes Repertoire zurückgreifen, fürs Album kannst du spezifisch komponieren.
Das stimmt im Grunde. Du kannst aber auch mit bereits komponierten Songs herumtüfteln und schauen, wie du sie zu einem Album zusammenfügst. Die Komposition ist nicht der einzige Faktor, der entscheidend dafür ist, was passt und was nicht. Du kannst einen Song auch sehr unterschiedlich aufnehmen und ihn je nachdem in einen völlig anderen Kontext stellen.
Machst du das tatsächlich?
Klar. Den letzten Song des neuen Albums, Oh Mary, habe ich zunächst in einem üppigen Soundkleid aufgenommen, mit ganz vielen Instrumenten. Doch letztlich fand ich, dass eine karge Version viel besser aufs Album und insbesondere an dessen Schluss passen würde.
Welchen Stellenwert hat die Anordnung von Songs auf einem Album für dich?
Für mich ist die Songanordnung ein sehr wichtiger Aspekt, auch wenn mir bewusst ist, dass das für die ganze Streaming-Welt nicht mehr zählt. Ich denke in Alben, in Alben als Erlebnis, und das will ich den Leuten, die das auch so fühlen, mit meinen Aufnahmen ermöglichen. Ich wende viel Zeit dafür auf, die richtige Struktur zu finden, versuche viele Varianten, lasse mir Zeit, um sie zu hinterfragen. Aber nicht selten erweist sich die erste Idee als die beste.
Bereust du manchmal, wie du Songs zusammengestellt hast oder welche Version du verwendet hast?
Nein, ich bereue nie, ich schaue auch nicht zurück. Manchmal finde ich erhebend zu sehen, wie weit ich gekommen bin. Aber ein perfektes Album gibt es nicht. Brächte man das als Künstler zustande, könnte man gleich abdanken.
«Mit dem muss ich mal ein Hühnchen rupfen.»
Hast du das Gefühl, du wirst mit den Jahren als Künstlerin besser oder veränderst du dich einfach?
Grundsätzlich ist es für mich schon primär Veränderung. Aber es gibt tatsächlich Aspekte, in denen ich besser werde. Technisch etwa. Ich stelle auch fest, dass ich kompositorisch schneller den Modus finde, etwas Substanzielles zu schreiben. Das ist sicher eine Verbesserung. Allerdings geht sie mit einem Opfer einher. Mit der Routine verlieren viele Dinge ihre Magie, die sie bei den ersten Malen noch hatten. Routine schlägt sich aufs Resultat nieder.
In einem Portrait über dich steht, du würdest die Inspiration für deine Songs üblicherweise aus Trennungen von einem Partner finden. Holst du dadurch die Magie ins Songwriting zurück?
Wer hat das geschrieben? Das habe ich ganz sicher nie gesagt. Es stimmt auch überhaupt nicht.
Das war ein deutscher Journalist, der deine neue Platte rezensiert hat.
Mit dem muss ich mal ein Hühnchen rupfen. Wobei er nicht ganz unrecht hat. Störungen im Leben sind schon die primäre Inspirationsquelle für mich. Das können Trennungen sein, aber es gibt noch ganz viele andere solcher Störungen. Manchmal störe ich mich auch selber, um wieder kreativ zu werden. Ein Umzug etwa, eine neue Stadt, das kann mich inspirieren. Das triggert mich, lässt mich Songs schreiben. Manchmal reicht es aber auch schon, die Gitarre in die Hand zu nehmen.
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Kannst du die Gitarre in die Hand nehmen und sagen: «Jetzt schreib ich einen Song» – und dann kommt einer?
Probieren kann ich es immer, aber nicht immer kommt etwas Schlaues dabei heraus. Musik kommt aus dem Leben. Man kann das nicht erzwingen. Du bist Journalist – da muss man doch sicher auch manchmal einfach mit dem Schreiben beginnen und darauf hoffen, dass der Funke springt. Und dann entsteht plötzlich etwas Tolles.
Läufst du also ständig mit der Gitarre herum, in der Hoffnung, dass du zum Komponieren kommst?
Haha, nein. Ich führe ein normales Leben und habe nicht ständig meine Gitarre bei mir. Vielmehr schaffe ich mir manchmal ein Umfeld, das mich kreativ macht. Das ist kein Erzwingen. Es geht lediglich darum, das Szenario für Kreativität zu schaffen … Moment … Ich muss rasch den Raum wechseln. Da wird’s langsam zu laut.
Ich nutze Tourneen gerne, um alte Sachen auszugraben.
Soundcheck?
Ja, genau. Heute Abend spielen wir.
Wo seid ihr gerade?
In München. Ich bin viel in Deutschland unterwegs, ich war hier schon mit meinem ersten Album auf Tour. Das ist schön – da kommen auch Leute, die mich seit meinen ersten Tagen als Musikerin begleiten.
Was spielst du auf der Tour vom neuen Album?
Einen grossen Teil der Songs, aber nicht alle. Ich nutze Tourneen auch gerne, um alte Sachen auszugraben, das macht mir extrem Spass. Nach sieben Alben habe ich mittlerweile eine recht grosse Auswahl. Und ich habe eine neue Band, die meine alten Songs teils ganz neu interpretiert. So entdecke ich Songs wieder und bekomme eine neue Beziehung zu ihnen. Das ist schön.
Ein Repertoire aus sieben Alben ist eigentlich recht luxuriös.
Stimmt schon. Ich erinnere mich an die erste Tour. Ich hatte zehn Songs, ein Album, 45 Minuten. Wie zum Henker soll man damit ein ganzes Konzert füllen? Das war ein elender Krampf. Ich musste mir mit irgendwelchen Covers behelfen. Jetzt kann ich ständig Songs wechseln.
Was erwartet das Zürcher Publikum?
Eine Show mit sanften und wilden Songs. Ein breites Spektrum und viele Überraschungen.
Anna Ternheim spielt am Sonntag, 10. November, im Kaufleuten Zürich.