Festival-Tagebuch: So war das Kaltern Pop 2017

Marcus Wiebusch von Kettcar. Bild: Janosch Tröhler

Negative White berichtet in einem fortlaufenden Tagebuch vom Kaltern Pop 2017 – in Text, Bild und Video.

Donnerstag, 26. Oktober, 14:45 Uhr

Es ist ein prächtiger Donnerstag. Nur ein paar Wolkenfetzen am stahlblauen Himmel. Die Sonne scheint warm in die lauschigen Gässchen von Kaltern am See. Vögel zwitschern. Nur ein kühler Wind erinnert daran, dass es Herbst ist.

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Bild: Janosch Tröhler

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Kaltern ist ein liebenswürdiges Städtchen im Südtirol. In den Hang gebaut, umgeben von Weinbergen. Weiter hinten ragen die felsigen Berge in die Höhe. Etwas südlicher im Tal glitzert der Kalternsee. Der historische Kern dieser Idylle ist eine Mélange aus allem, was gemeinhin als romantisch gilt: etwas mittelalterliches Massiv, alpiner Hüttencharme und eine Prise Toscana-Ambiente. Auf so kleinem Raum findet man das sonst nur im Europapark.

Doch die Vielfalt beschränkt sich nicht nur auf die Architektur oder die Atmosphäre: Das Programm des Kaltern Pop, kuratiert von den erfahrenen Machern des Haldern Pop, strotzt ebenfalls vor Abwechslungsreichem. Unsere fünf Favoriten haben wir unlängst auserkoren.

Währenddessen flanieren Touristen über das Kopfsteinpflaster oder geniessen ein Gläschen Vino in einer der zahlreichen Weinstuben. Keine Hektik; pure Entspannung.

Bild: Janosch Tröhler

Donnerstag, 26. Oktober, 16:15 Uhr

«Kalterer Weinstube zur Sabine» heisst unser Unterschlupf. Es ist ein Restaurant mit angeschlossenen Appartements. «9 AP» steht auf dem Schlüssel, der zu einer kleinen Residenz mit einem Doppel- und einem Einzelzimmer. Ein Bad mit Dusche gibt’s ebenfalls.

Das Einzelzimmer, kaum mehr als eine Abstellkammer, ist bestückt mit einem zu grossen Schrank und zu kleinen Bett. Dazu ein Fernseher der «etwas» älteren Generation. Von den Wänden die barmherzigen Blicke von Mutter Maria und einem gewissen Herrn Jesus. Nicht unbedingt ein Ort, wo man viel Zeit verbringen will. Zumal man Gefahr läuft, gottesfürchtig zu werden. Andererseits war das auch nie der Plan, die Tage in dieser Zelle abzusitzen.

Mittlerweile steht die Sonne schon tief. Vor dem «Keller zum Kiel» plätschert ein Brunnen und ein «Batzen Bräu» die Kehle hinab.

Donnerstag, 26. Oktober, 19:00 Uhr

Filzhut, weisses Hemd, Gitarre. So steht Jordan Mackampa auf der Bühne im katholischen Vereinshaus. An sich nichts Aussergewöhnliches. Ja, man möchte gar sagen: «Verdammt, die Welt braucht nicht noch einen Singer-Songwriter!»

Bild: Janosch Tröhler

In der Tat sind seine Lieder über lange Strecken in ebendiesem Singer-Songwritertum verhaftet. Dann sind die Stücke gut – nicht mehr, nicht weniger. Aber völlig unverhofft lässt Mackampa seine Knallkörper los: Wenn seine Stimme in engelsgleiche Höhen schwingt, die Saiten schmerzhaft malträtiert werden oder er eine Pirouette in der Melodie vollführt, erhalten die Songs etwas Besonderes. Dass der Brite mit kongolesischen Wurzeln diese Effekte so spielerisch und einfach erzielt, ist das wahre Faszinosum seines Auftritts.

Flankiert von zwei fast lebensgrossen Statuen und unter der gewölbten Decke des Saals spielt der Mann seine samtweichen Stücke. Es ist nicht unbedingt der Sound, der eine lange Nacht einläutet, dafür doch ausufernde Träume heraufbeschwört. An Schlaf ist dennoch nicht zu denken. Denn der junge Musiker schafft es gar, das Publikum zu einem mehrstimmigen Chor anzuleiten. Was für ein Moment!

Donnerstag, 26. Oktober, 20:15 Uhr

Gleich zweimal stand der renommierte Posaunist Nils Landgren dieses Jahr auf dem Programm: Einmal solo am frühen Abend, später dann zusammen mit Loney Dear. Kurzerhand wurde die Landgren-Loney-Dear-Kollaboration aber vorverlegt. Daraus resultierte, dass Loney Dear anstatt Landgren zu zwei Auftritten kam.

Da steht er also, Loney Dear auf dem kleinen Podest im Weinmuseum. Es ist ein Ort aus Musiker-Sagen: Der weiss getünchte und in kräftige Farben getauchte Keller bietet eine unfassbare Kulisse. Zwischen den antiken Amphoren und massiven Holzkonstruktionen der Weinproduktion erklingen avantgardistische Jazz-Klänge, als seien sie nicht von dieser Welt.

Bild: Janosch Tröhler

Es beginnt ganz leise. Minutiös werden die Elemente geloopt, bis dann Landgren unvermittelt mitten im sitzenden Publikum sein Instrument ertönen lässt. Langsam entwickelt sich aus den Fragmenten ein Ganzes: Broken Wings von Mr. Mister. Doch der Song fliesst in den nächsten, wird selbst wieder nur ein Teilstück. Es ist eine Reise durch eine sich ständig umpflügende Klanglandschaft: Berge türmen sich auf, man überfliegt tiefe Täler, vorbei an springenden Wassern und ruhenden Ozeanen.

Landgren – stimmlich keine Konkurrenz zu Loney Dear – entlockt seiner Posaune Facetten, die man nicht für möglich gehalten hätte. Im einen Moment butterweich, dann kraftvoll und plötzlich unter Qualen leidend.

Donnerstag, 26. Oktober, 21:10 Uhr

Was geschieht, wenn man Klassik der Clubmusik annähert? Der Deutsche Daniel Brandt und seine Band The Eternal Something sind exakt dieser Frage nachgegangen. Zum ersten Mal wurde es am Kaltern Pop richtig laut. Unterstützt vom bekannten Orchester «Stargaze, erreichte der wortwörtlich «klassische Clubsound» eine Brustkorb-erschütternde Wucht. Bisweilen verführten Brandt und seine Mitmusiker das Publikum gar in psychedelische Gefilde, die selbst Infected Mushroom vor Neid hätte erblassen lassen.

Bild: Janosch Tröhler

Gleichzeitig war die Annäherung an die Dance-Musik so prägnant, dass ihre Musik tatsächlich tanzbar wurde. Das einzige Problem des Daniel Brandt bleibt: Die Steigerungen noch in der Klassik fest. Sie sind zu schleppend, als dass eine vergleichbare Euphorie wie im Klub hätte entstehen können. Dabei hat die Musik durchaus dieses Potential. Trotz dem Manko: Dieses Experiment ist überzeugend. Auch wenn man hin und wieder nach Halluzinogenen lechzt.

Bild: Janosch Tröhler

Donnerstag, 26. Oktober, 22:15 Uhr

Nach einem Glas Rotwein und Gesprächen über die Schweizer Musikszene finden wir uns erneut im Weinmuseum. Diesmal ist Ajimal unser Gefährte, ein britischer Doktor, der auch Musik macht. Am Klavier sitzend und singend, spielt er nicht Jazz wie Landgren zuvor. Hingegen bezaubert er den Raum mit seiner Falsett-Stimme und tiefgreifenden Balladen.

Die Besucherinnen und Besucher – zumeist etwas älter – sitzen ehrfürchtig lauschend auf dem Boden. Es ist mucksmäuschenstill. «Ihr seid so still. Da vergisst man, dass ihr das seid», sagt Ajimal nach dem ersten Stück. Der Song schien eine Ewigkeit zu dauern. Oder auch nicht. Das lässt sich nicht genau sagen. Es ist, als ob seine Musik unsere Vorstellung von Zeit aus den Angeln hebt.

Donnerstag, 26. Oktober, 23:10 Uhr

Vor dem Vereinshaus sammelt sich die Menge ein letztes Mal. Alle warten auf den Einlass zum Solo-Auftritt von Loney Dear.

Eine Gruppe junger Deutscher kommt, einer von ihnen ist blind. Da sagt einer der Männer zum Blinden: «Du, ich hab eine unverschämt dumme Frage: Wenn dir was ins Auge kommt, tut das dann weh?» – So dumm ist die Frage gar nicht. Und nein, tut es – wenigstens diesem Herren – nicht. Aber er spüre die Fremdkörper mit dem Lid, sagt er.

Donnerstag, 26. Oktober, 23:35 Uhr

Bei seinem eigenen Auftritt kämpft der Schwede Emil Svanängen alias Loney Dear zwar mit kaputten Kopfhörern, doch die Musik ist deswegen nicht weniger intensiv. Nicht jazzig wie noch im Weinkeller, mehr elektronisch, sphärisch. Die Kraft des Sounds liegt ins der Stimme, die sich deutlich über das Arrangement legt. Irgendwie entkoppelt vom Rest. Die Loops bauen sich auf, sie steigern sich zu regelrechten Monumenten. Donnernd und dröhnend, um darauf in sich zusammenzustürzen.

Währenddessen steht im Publikum ein Typ, der aussieht wie ein obdachloser Leonardo DiCaprio. So wie in The Revenant. Duscht der DiCaprio eigentlich wieder? Bei diesem Gedanken ist es definitiv Zeit, entweder das Bier oder das Notizbuch wegzulegen. Die Entscheidung fällt leicht. Prost!

Der zweite Tag

Freitag, 27. Oktober, 8:00 Uhr

Der Wecker, dieses Unding. Der Schlaf war nicht sonderlich erholsam… Also Festival-Frühstück: Kaffee und Zigarette. Danach ein kurzer Abstecher in die Weinberge und die Drohne steigen lassen. Kurz darauf die mittlere Sinnkrise. Die Video-Dateien vom Handy wollen einfach nicht abgespielt werden. Mit Müh und Not schustern wir trotzdem ein kleines Impressionsvideo zusammen. Das gibt’s ab sofort auf Facebook zu sehen:

Freitag, 27. Oktober 2017, 16:00 Uhr

Das Telefon klingelt. Am anderen Ende ist Mario Batkovic, der Akkordeon-Virtuose. Ganz spontan organisieren wir ein Video-Interview samt kleinem Dreh vom Soundcheck. Bereits da wird klar: Der Mann wird einen unglaublichen Auftritt hinlegen, für einen Song gar zusammen mit dem Chor Cantus Domus.

Bild: Janosch Tröhler

Freitag, 27. Oktober 2017, 18:20 Uhr

Erstmals gibt’s am Kaltern Pop leichte Verspätung. Batkovic braucht nach dem Soundcheck unbedingt noch eine Zigarette. Also zieht er hastig an seinem Glimmstengel.

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Bild: Janosch Tröhler

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Prunkvoll sind sie, die katholischen Kirchen. Auch die Pfarrkirche in Kaltern. Doch keine Stuckatur, kein Marmor und kein Gold vermag dem Pathos das Wasser reichen, das der Schweizer Musiker Mario Batkovic seinem Instrument entlockt. Mit einem tiefen Grollen und beklemmenden Klängen katapultiert er das Akkordeon aus seinen Vorurteilen heraus.

Es sind Kompositionen, die einen schaudern lassen. Als sei Gottes Zorn in das Instrument gefahren und nun durch die Hände des Kotletten tragenden, tätowierten Mannes entfesselt worden. Fast sprengt die Musik das hohe Dach des heiligen Hauses in tausend kleine Stücke, weil sie nach Raum und Grösse verlangt.

Schliesst man die Augen, kann man sich kaum vorstellen, dass diese Lieder bloss von einer einzigen Person erzeugt werden. Mit jeder Bewegung hebt Batkovic ganze Kontinente aus dem Ozean. Vulkane brechen mit zerstörerischer Kraft aus. Frevler, die meinen, das Akkordeon sei nur Gedudel für Pariser Cafés, wird vom Tasten-Teufel bekehrt.

Als für ein letztes, furioses 9-Minuten-Epos noch der Chor in das Spiel einsteigt, ist der Auftritt geradezu sündhaft gut.

Bild: Janosch Tröhler

Freitag, 27. Oktober 2017, 19:15 Uhr

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Bild: Janosch Tröhler

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Die Gerätschaften, die vor dem Altar der Pfarrkirche aufgebaut wurden, erinnern an ein Raumschiff. Martin Kohlstedt beugt sich wie ein verrückter Wissenschaftler über seine Instrumente. Den Rücken zum Publikum zugewandt, startet er eine Reise in fremde Galaxien.

Wie Batkovic vor ihm spielt der Deutsche atemberaubend cineastische Musik. Doch lassen sich die beiden nicht vergleichen – bis auf eine Gemeinsamkeit, die beide Expeditionen verbindet: Sie erweitern den Horizont, den wir von den Instrumenten hatten.

Der Pianist Kohlstedt transportiert die Klavierklänge mittels Loops und Synthesizer in unentdeckte Dimensionen. Imposant wie eine Supernova, lieblich wie ein Sternenhimmel und gefährlich wie ein Asteroidengürtel sind seine Stücke. Wie das Weltall verlieren seine Kompositionen trotz ihrer Weite niemals an Faszination.

 «Das ist das Ding mit den Kirchen; man will es möglichst ausreizen», sagte Kohlstedt, nachdem er es derart krachen liess, dass der Sound schon an der Grenze zum dämonischen Lärm kratzte.
Bild: Janosch Tröhler

Freitag, 27. Oktober 2017, 20:10 Uhr

Er ist der Star des Abends: Erlend Øye. Ein norwegischer Wuschelkopf mit Nerdbrille und Schlafzimmer-Stimme. Mittlerweile wohnt er an der sizilianischen Küste. Obwohl er etwas verpeilt wirkt, ist dieser Musiker nicht zu unterschätzen: Er war Teil der erfolgreichen Kings of Convenience. Und falls dir dieser Name nichts sagt, dann sicherlich dieser Song:

Øye tritt zuerst alleine auf die Bühne. Er will einen neuen Song spielen, bricht aber nach der ersten Strophe ab. «Ich habe leider den Song vergessen, weil wir so intensiv mit dem stargaze-Orchester geprobt haben. Ich spiele ihn später an der Bar für euch.»

Bild: Janosch Tröhler

Dafür stimmt er einen Liedwunsch aus dem Publikum an, um danach das Orchester auf die Bühne zu bitten. Mit den Mitmusikern im Rücken überkam der schläfrige Sound einen Hauch von Art-Rock. Pink-Floydesk uferten die Arrangements aus. Selbst bei La Prima Estate: Hippie-Feeling im Klassik-Gewand, das hört man nicht alle Tage.

Freitag, 27. Oktober 2017, 21:05 Uhr

Ein kleiner Italiener steht da auf der Bühne. Fabrizio Cammarata sei ein Prince-Double, sagte zumindest Erlend Øye. Vielleicht das Aussehen ein wenig. Aber musikalisch stimmt der Vergleich definitiv nicht. Mit Temperament spielt er seine akustische Gitarre, die fast doppelt so breit ist wie er. Das sieht schon ein wenig komisch aus.

Doch Cammarata ist – zum Glück – kein weiterer Schnulzen-Schmetterer. Nein, mit seiner Stimme und Gitarre kann er regelrecht laut werden. Da trommelt er auf dem Klangkörper der Gitarre wie Tommy Emmanuel, übrigens der einzig wahre Gitarrengott. Bereits alleine erreicht Cammarata eine beeindruckende Präsenz im Sound. Da will man sich nicht ausmalen, was er mit einer Band im Rücken anstellen könnte.

So gut seine Arbeit an den Saiten sein mag, seine Stimme trägt die Songs: von der hohen Kopfstimme wechselt er spielerisch in einen kratzigeren Rock-Gesang und trifft dabei problemlos jede Note.

Freitag, 27. Oktober 2017, 22:15 Uhr

Keine grosse Bühne braucht der Schweizer Trommel-Tausendsassa Julian Sartorius. Mitten im Vereinshaus steht sein Schlagzeug und allerlei Krimskrams. Nichts davon ist ohne Zweck: Der bescheiden ausschauende Berner platziert die Utensilien auf seinen Drums, entlockt dem Schlagzeug so ungeahnte Facetten. Es ist ein Konzert, das mehr einem Performance-Kunstwerk gleicht, denn der schlichten Darbietung von Musik. Sartorius imitiert Scratches, trommelt auf gespannten Federn herum und sogar kleine Vibratoren kommen zum Einsatz.

Bild: Janosch Tröhler

Die Lust am Klang-Experiment steht dem Künstler ins Gesicht geschrieben, wie er hinter seiner Küche hantiert. Es ist ein Auftritt, bei dem man es kaum wagt, auch nur eine Sekunde den Blick abzuwenden. Tut man es doch, hört man plötzlich einen neuen Sound und fragt sich: «Wie zum Geier hat er das schon wieder hingekriegt?»

Sartorius‘ Spiel ist purer Wahnsinn: Ständig entsteht aus dem Chaos eine Ordnung, die wieder im Chaos aufgeht. Nichts ist linear.

Freitag, 27. Oktober 2017, irgendwann nach 23:00 Uhr

Ein paar Biere reicher. Nach der Show von Sartorius trifft sich die Schweizer Connection vor dem Vereinshaus. Mario Batkovic ist da, Sartorius schaut auch vorbei, muss aber gleich los – weiter nach Innsbruck. Es wird viel geredet, die Zeit fliegt. Mit Schrecken stelle ich – beim Blick auf den Zeitplan – fest: Ich habe Hope verpasst. Nun gut, dann gönnt man sich noch die letzten Töne von Broen. Dabei denkt man sich schon: Was haben die denn eingeschmissen?

Freitag, 27. Oktober 2017, irgendwann vor Mitternacht

Wir landen im Kuba, etwas ausserhalb des historischen Kerns von Kaltern. Mit Freude bemerken wir, dass Hope immer noch auf der Bühne stehen. Der Sound wummert düster, es lärmt und schreit und kracht. Danach geht die Party weiter. «Der Bär steppt», würde man in Bern sagen. Und auch Erlend Øye ist hier, tanzt sich von der Tanzfläche zur Garderobe und wieder zurück. Es ist halb Vier in der Früh, als wir wieder in der «Residence zur Sabine» ankommen…

Der dritte Tag

Samstag, 28. Oktober 2017, 14:00 Uhr

Die Nacht steckt noch in den Knochen. Aber dafür gibt’s hier eine Kurz-Reportage über Mario Batkovic:

Samstag, 28. Oktober 2017, 18:00 Uhr

Der Wecker klingelt. Der Power-Nap war gut und nötig für den Endspurt. Es ist kalt geworden. Die Gassen sind leer, die Weinschenken voll. Ein perfekter Abend um mit Voodoo Jürgens Tote auszugraben.

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Bild: Janosch Tröhler

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Kurz nach halb Sieben braust ein weisser Bus heran und hält ruppig vor dem Vereinhaus. Heraus stürmen Voodoo Jürgens und seine Kompagnons. Sie sind spät, sehr spät dran. Um 18:45 sollten sie auf der Bühne stehen. Das wird mit Sicherheit nicht der Fall sein.

Viele Besucherinnen und Besucher drängen sich im Eingangsbereich. Es scheinen deutlich mehr Leute hier zu sein als an den Abenden davor. Alte, Junge, Familien mit Kindern. Am heutigen Samstagabend scheint das Kaltern Pop der «place to be» zu sein. Das trifft ja eigentlich auf das ganze Festival zu.

Um 19:15 Uhr geht es endlich los. So schräg wie erwartet tönt der Österreicher gar nicht. Sein Sound hat einen coolen, fast traditionellen Groove. Das Akkordeon trägt die Melodie, begleitet von der Violine, unterfüttert mit dem Kontrabass.

Mit Hansi da Boxer kommt das Schräge alsbald mit stampfendem Rhythmus. Wobei man ehrlich sein muss: Mindestens 50 Prozent der Eigenwilligkeit macht der Gesang aus. Wer des Dialekts nicht mächtig ist, bleibt chancenlos. Voodoo Jürgens könnte genauso gut chinesisch singen. Dann fehlte allerdings diese Schrulligkeit, die die Songs gleichzeitig amüsant, kernig und unverwechselbar macht.

Heute grob ma Tote aus ist eine Darbietung mit ansteckender Spielfreude. Das Publikum stimmt freudig in den Refrain ein, während die Musiker sich von einer Kapriole in die nächste stürzen. Danach ist ihr Set bereits vor bei – nach knapp 30 Minuten. Die Menge ist erst warm geworden. Johlen, Jubel und Applaus. Die Saalbeleuchtung geht an: vereinzelte Buh-Rufe und Pfiffe. Aber an einem Festival kann man sich halt keine so grobe Verspätung erlauben.

Bild: Janosch Tröhler

Samstag, 28. Oktober 2017, 19:50 Uhr

Die Verspätung zieht sich bei der italienischen Musikerin Birthh weiter, wenn auch weniger substanziell. Die Leute stehen nun vor dem Weinmuseum Schlange.

Noch ist das Kaltern Pop ein junges und kleines Festival. Es ist schon die Frage, wie es überhaupt wachsen kann. Bei diesem Andrang kommt das Museum an seine Grenzen. Nicht alle kommen rein. Andererseits birgt Kaltern bestimmt noch den einen anderen schmucken Raum.

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Bild: Janosch Tröhler

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Birthh und ihre beiden Mitmusiker lassen keine Zeit verstreichen. Es ist melodiöser Indie-Pop, angetrieben durch pumpende Beats. Darüber legt sich ihre klare, nachdenkliche Stimme. Filigran bauen sich die Stücke auf. Die Songs sind zerbrechlich und unschuldig wie Porzellan. Zugleich aber kraftvoll und stark wie Diamanten. Und immer sind sie sphärisch, weit. Manchmal verträumt, manchmal hellwach und voller Tatendrang.

Ja, es ist schöne Musik. Von einer exzellenten Qualität. Das Talent als Songwriterin trägt Birthh offen, aber nicht angeberisch zur Schau. Sie hat nur einen einzigen Makel: Es fehlt dem Sound noch an Eigenständigkeit. Zu oft denkt man, dass man sowas ähnliches schon gehört hat.

Bild: Janosch Tröhler

Allerdings täte man dieser jungen, 1996 geborenen Künstlerin Unrecht, jetzt bereits das finale Verdikt zu sprechen. Birthh hat grosses Potential. Sie spielt mit unglaublich viel Gefühl und hat den Mut, unorthodoxe Wendungen in die Songs einzustreuen. Wie überwältigend das Resultat sein kann, zeigt sich am besten in Chlorine.

Mit ihrer bescheidenen und offenherzigen Art versprüht sie eine menschliche Wärme. Die Sympathie der Besucher hat sie sich am Kaltern Pop auf jeden Fall schnell gesichert.

Bild: Janosch Tröhler

Samstag, 28. Oktober 2017, 22:20 Uhr

«Jeder darf tun und lassen, was er will. Dafür steht diese Band», so begrüsste Patrick Wagner das Publikum im Kuba. «Die Gretchenfrage ist: Geht ihr gleich zu Kettcar, die ich zutiefst verachte, oder bleibt ihr bei uns? Wir sind Gewalt. Und Gewalt geht so.»

Ein ohrenbetäubender Beat ertönt. Die Wagner und seine beiden Mitmusikerinnen verlassen die Bühne für gefühlte fünf Minuten. Dann kommen sie zurück. Der kleine Raum komplett dunkel, nur ein weisses Signallicht dreht unablässig. Gewalt sind mit Abstand die kompromissloseste Band am Kaltern Pop. Ihr Konzept besteht aus monotonem Krach und Geschrei:

Ich habe Sex!
Du hast Sex!
Das ist Sex!

Ich meine: «What the fuck?» – Aber das ist es, was geil an Gewalt ist: Sie geben einen Scheiss auf alles. Nach dem ersten Song ruft Wagner zum Mischer: «Beat bitte lauter! Gesang bitte lauter! Danke!» Und so verkommt der Lärm zur Ganzkörpermassage. Die Phrasen, die gebrüllt werden, erschüttern den kleinen Klub in den Grundfesten.

Du bist allein!
So soll es sein!

Gewalt ist wahrscheinlich die kränkste Band, die ich jemals gesehen habe. Das liegt daran, dass Patrick Wagner ein irrer Typ ist. Nicht wenige hassen ihn im Musikbusiness. Immerhin bleibt er kompromisslos dabei.

Samstag, 28. Oktober 2017, 23:20 Uhr

Im Unterschied zu vielen anderen Künstlern am Kaltern Pop sind Kettcar erfahrene alte Hasen. Seit gut 15 Jahren sind die Hamburger Indie-Rocker bereits unterwegs. Vor wenigen Wochen haben sie das grossartige Album Ich vs. Wir veröffentlicht.

Bild: Janosch Tröhler

In Kaltern spielen sie nur durch Zufall, sind Ersatz für Judith Holofernes. «Wir covern nicht. Weil wir denken, wir sind geiler…», meint Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch nachdem sie Ankunftshalle gespielt haben. Aber es ist halt wieder so ein Kaltern-Pop-Moment. Es ist alles möglich, auch ein Cover-Song: Analogpunk von Judith Holofernes, gesungen vom Keyboarder Lars Wiebusch.

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Bild: Janosch Tröhler

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Kettcar spielen laut und schnell. Sie sind locker und trotzdem professionell. Die Routine ist spürbar, aber sie geht nicht auf Kosten der Freude. Die Band stimmt Sommer ’89 an. Ein Fanal, das einschlug wie eine Bombe. Live wird der Song wilder, klingt mehr wie klassischer Indie-Rock. Natürlich verliert er deswegen nicht an politischer Sprengkraft.

Selbst ihre «Liebeslieder» haben diesen gewissen Sturm und Drang in sich. Mit Ausnahme von Balu, zu dem das Publikum als sanfter Chor einstimmt. Es ist eine etwas gar kitschige Ballade, aber welche Rockband hat keinen dieser «cheesy» Songs?

Mit Money Left To Burn sind Kettcar aber schnell wieder bei einer richtigen Rockshow. Die Lichter blitzen, der Raum vibriert. Dann dürfen sie sogar noch zwei Zugaben geben. Denn sie sind ja Kettcar. Nach Auf den billigen Plätzen fahren sie die Landungsbrücken aus. Es ist ein hochtrabender, leicht pathetischer Schluss. Andererseits haben Kettcar genau das richtige Gespür dafür, Pathos attraktiv zu verpacken.

Bild: Janosch Tröhler
Bild: Janosch Tröhler
Bild: Janosch Tröhler

Sonntag, 29. Oktober 2017, 01:00 Uhr

Perfekt um 1 Uhr ist dieses Tagebuch Geschichte. Es waren drei aufregende Tage. Voll mit neuen Entdeckungen. Blicke in fremde Klanglandschaften, die man so wohl nur am Kaltern Pop erleben kann.

In diesem Sinne: Bis nächstes Jahr. Ich empfehle mich.