«Ich stand nackt vor einer Kunstklasse»

Im vergangenen Jahrzehnt gab es viele Menschen, die bei Negative White mitgearbeitet haben. Wir haben bei zwei ehemaligen Reporterinnen nachgefragt, was sie geprägt hat und was sie heute tun.

«Ich stand nackt vor einer Kunstklasse»

Negative White ist eine Plattform, die nicht nur die Schweizer Kulturlandschaft abbildet, sondern auch motivierten Menschen einen kreativen Raum gibt. In den letzten zehn Jahren arbeiteten über 40 Reporter*innen und Fotograf*innen für das Online-Magazin. Manche nur kurz, andere jahrelang.

Wir haben bei zwei ehemalige Journalistinnen nachgehakt: Was hat sie in ihrer Zeit bei uns besonders geprägt? Und wohin hat sie das Leben getrieben?

«Negative White hat mich sehr weit gebracht – weiter als mir in dem Moment vielleicht bewusst war.»

Tatjana Pürro hat von 2014 bis 2016 für Negative White geschrieben. Mit 18 Jahren war sie das jüngste Mitglied der Redaktion und verfasste in ihrer Zeit 40 Artikel. Sie berichtete etwa über die Schweizer Esport-Szene, über das Projekt PlayLIVE#Bern oder sprach mit Emilie Zoé.

«Es war die Gesamtheit der Möglichkeiten, die mich geprägt hat», meint Tatjana rückblickend. «Ich konnte einfach ausprobieren, experimentieren.» Für die Arbeit bei Negative White habe sie sich extra eine Kamera samt gutem Objektiv gekauft. «Als ich das erste Mal in einem Fotograben stand, was das ein grossartiges Gefühl.»

Tatjana Pürro im Interview mit Emilie Zoé
Tatjana Pürro im Interview mit Emilie Zoé. Bild: Sandro Schmutz

Heute arbeitet Tatjana am Wochenende bei einem Radio, wo sie zuvor einen zweijährigen Stage absolvierte. Aber es treibt sie dennoch weg vom Journalismus: «Ich studiere Biologie und mache ein Diplom als Umweltpädagogin.»

«Negative White hat mich sehr weit gebracht – weiter als mir in dem Moment vielleicht bewusst war», sagt Tatjana. Die Erfahrungen möchte sie deswegen nicht missen. «Ich war damals so jung, so schüchtern, so unsicher. Aber ich konnte eintauchen in die Welt der Musik, Kultur und Konzerte – als stille Beobachterin und Staunende.»

Sie habe in kurzer Zeit viele verschiedene Menschen kennengelernt, gelernt, wie sie mit wem sprechen muss. darf und kann. «Und vor allem habe ich viel gelernt über die schönen Seiten des Journalismus: die langen, tiefen Gespräche mit inspirierenden Menschen, die man im Tagesjournalismus so selten führen kann.»

«Zum ersten Mal konnte ich frei über mein Schreiben verfügen.»

Etwas mehr als ein Jahr gehörte Lidija Burcak zur Redaktion und steuerte neun Artikel bei. Aber die hatten es immer in sich. Die heute 36-jährige Winterthurerin wagte irrwitzige Selbstexperimente. «Ich stand nackt vor einer Kunstklasse. Das war das prägendste Ereignis, ganz klar», sagt sie. Der Bericht «Nackt für die Kunst» blieb lange einer der meistgelesenen Artikel.

Lidija Burcak Zeichnungen
Bild: zvg

«Es war schon sehr toll, was ich für Negative White machen durfte. Es waren eindrückliche Erlebnisse, auch wenn ich nicht lange Zeit dabei war», lautet Lidijas Fazit über ihre Zeit in der Redaktion. «Zum ersten Mal konnte ich frei über mein Schreiben verfügen, wie ich was und vielleicht auch warum empfunden habe – also eine persönliche Art.»

Damals sei sie noch sehr unsicher gewesen bezüglich ihres Schreibens. Ständig hatte sie das Gefühl, jetzt dann eins auf den Deckel zu kriegen. «Aber mit Negative White zu arbeiten, war stets druck-, stressfrei und wohlwollend.»

Geschätzt habe sie vor allem die Freiheit: «Ich konnte jegliche Erfahrungen in den Texten verarbeiten von einer durchzechten Nacht in Berlin, zu einem schlechten Musik-Album, bis hin zu der Erfahrung als Aktmodell.»

Der Erfolg des Berichts über das Aktmodell-Stehen gab ihr einen Kick, meint sie. «Es war abenteuerlich draussen etwas zu erleben, darüber zu schreiben, selbst zu gestalten, Feedback zu bekommen, daran zu basteln und sich dann im Internet zu verewigen.» Und sie meint: «Es ist wichtig gibt es Magazine, die Platz für Experimente, persönliche Erlebnisse und Meinungen lassen.»

Die Unsicherheit über das eigene Schreiben hat sie abgelegt. Heute tourt sie mit ihren Tagebuch-Lesungen durch die Schweiz – und begeistert auch den «Tages-Anzeiger». Ausserdem realisiert sie Filme und versucht als Visuelle Anthropologin das Fach in die Praxis umzuwandeln.